Jahresbericht 2023: Zwischenräume

Es gibt einen kleinen Raum in der Druckstelle, gleich beim Eingang links. Wir Erwachsenen, dies sei gleich gesagt, dürfen da nicht rein.

Der Raum hat uns in den letzten Jahren einiges an Kopfzerbrechen bereitet. All unsere Bemühungen, ihn «schön», «liebe-» oder «sinnvoll» einzurichten, sind grandios gescheitert. Der Baldachin über der Leseecke war am Nachmittag seiner Hängung schon zerschnitten, die Bilderbücher, eigentlich gedacht, auf eigens vom Schreiner gefertigten Eichenleisten zu stehen, liegen oft zerfleddert auf dem Boden, die zum dritten Mal frisch gestrichene Wand ist erneut mit Penis- und anderen Symbolen vollgekritzelt. In Kombination mit dem versifften Sofa, den überall verstreuten Pipas auf dem Boden und der flackernden Neonlichtröhre an der Decke hat der Raum in etwa den Charme einer Raucherzelle am Euroairport.

Trotzdem braucht es diesen Raum. Er ist, so haben wir nach und nach gemerkt, eine Art Durchgangstation, an welcher sich die Kinder noch eine Weile aufhalten können, bevor sie sich an die Arbeit machen. Je nach Kind dauert diese Verschnaufpause unterschiedlich lang. Manche Kinder schauen kurz ins Räumchen rein, bevor sie an ihrem Buch weitermachen. Andere wiederum wagen sich erst kurz vor Ende des Nachmittags heraus. Bei wieder anderen dauert die Verschnaufpause auch nach einem Jahr noch an.

Am kleinen Raum lässt sich insofern auch ablesen, wie das Gestalterische nicht ohne Soziales zu haben ist. Unmissverständlich steht er dafür ein, dass es hier um Menschen geht, die in ihrer Ganzheit zu uns kommen, das heisst, mit all ihren Bedürfnissen und manchmal drängenden Nöten. Die hochästhetische Oberfläche, die wir unter anderem mit unseren Verlagsprodukten vermitteln, darf nicht darüber hinwegtäuschen, welch lange Wege manche Kinder zurücklegen, wie viele Hürden sie erst abbauen müssen, bis sie sich getrauen, etwas Eigenes von sich zu geben. Ihre Bilder und Geschichte entäussern sie erst nach intensiver Beziehungsarbeit, nach einem langen Hin und Her, zwischen Annäherung und Abstossung, zwischen kleinem Raum und grossem Arbeitstisch, wo wir Erwachsenen versuchen, etwas in die Gänge zu bringen.

Unsere Arbeit in der Druckstelle findet daher oftmals in einer Art paradoxen Zwischenzone statt: Fragt man die Kinder, ob sie Lust haben, etwas zu schaffen, ist die Antwort nicht selten ein klares Nein. Jedoch, so wissen wir aus Erfahrung, wollen sie auch nicht nichts schaffen. Sie kommen ja am Nachmittag, stehen oftmals eine halbe Stunde vor Öffnung vor der Türe und wollen auch um fünf Uhr nicht gehen.

Diesen Weder-Noch-Zustand auszuhalten, ist für die Kinder wie auch für uns Erwachsenen nicht immer einfach. Manchmal überdeckt er ganze Nachmittage mit einer bleiernen Langeweile, bei der es weder vorwärts noch rückwärts geht. Und nicht selten entlädt sich die darin gelegene Spannung in destruktivem Verhalten oder blinder Zerstörungswut. Vertrauen fassen heisst bei einigen Kindern eben auch: unsere Grenzen so weit auszutesten, dass wir vor lauter Frechheiten und Verweigerung beinahe vergessen, dass ihr Aufbegehren alles andere als unbezogen ist. Erst nachdem sie uns dermassen auf den Zahn gefühlt haben, können sie sich sicher sein, dass ihre Bilder und Geschichten gut aufgehoben sind bei uns.

Diesen Zwischenzustand gilt es durchzustehen, gemeinsam mit dem Kind, mit Geduld und Humor -  und vor allem mit dem unbedingten Vertrauen darauf, dass jedes Kind ein Ausdrucksbedürfnis besitzt und sich dieses zu seiner Zeit und auf je eigene Weise einen Weg bahnen wird.

Die Momente, in denen das nicht nichts Schaffen wollen plötzlich in ein lautes Ja umschlägt, sind entsprechend magisch. Ein besonders starkes Beispiel dafür dürfen wir in der Einlage des vorliegenden Jahresberichtes abdrucken, mit Genehmigung von Yaren, einem zehnjährigen Mädchen. Während mehr als einem Jahr besuchte sie die Druckstelle, hielt sich aber vor allem im kleinen Raum auf, über den sie mit widerständiger Energie und mit barschem Befehlston herrschte. Eines Tages nahm sie den Laptop der Druckstelle mit in den Raum und begann zu tippen. Die «Traurige Geschichte», die da ihren Anfang nahm, ist etwas vom Kraftvollsten, was wir bisher lesen durften. Mit welch sorgsam gewählten Worten da erzählt wird, mit welcher Feinheit komplexe Gefühle beschrieben werden, wie unmittelbar spürbar da die innere Not der Protagonistin an einen herandrängt – es nahm uns schlicht den Atem. Bei einem späteren Besuch einer Tagesstruktur-Gruppe entschied sich Yaren spontan, die Geschichte den anderen Kindern vorzulesen. Das völlige Ausbleiben jeglichen Rumblödelns, die gebannte Aufmerksamkeit, die tiefe Stille, die danach einsetzte und mit der die Kinder das Erzählte würdigten - das alles liess keine Zweifel daran, wie ausgeprägt das Gespür für die «Wahrheit» einer Geschichte auch bei Achtjährigen schon ist.

Und natürlich gibt es auch viele Kinder, die weder Zwischenräume noch doppelter Verneinungen bedürfen, um in einen gestalterischen Prozess einzusteigen. Sie kommen in die Druckstelle, nehmen Pinsel und Papier zur Hand und beginnen. Gerade im Rahmen unserer Vermittlungsprogramme, in denen wir an einem bestimmten Thema und mit eingeladenen Gästen arbeiten, stellt sich zumeist ein produktiver Strom ein, den fast jede und jeder mitreisst. Mit über 35 BesucherInnen pro Nachmittag drohte der Strom zuweilen auch ins Unkontrollierbare anzuschwellen (so geschehen in der Comicwoche, in Kooperation mit dem Cartoonmuseum Basel, wie auch in der Naturfärbewoche mit NOU in den Sommerferien). Wir dürfen uns glücklich schätzen, unseren Radius in den letzten Jahren so weit ausgedehnt zu haben, dass auch immer wieder BesucherInnen aus anderen Quartieren ankommen, mit der Absicht, ein Buch, einen Comic, einen Druck zu machen. Dazu trugen sicher auch die ausserordentlich vielen Veranstaltungen und Projekte bei, die wir im Jahr 2023, dank einer frühzeitigen Planung mit einem Jahresprogrammflyer bewerben und durchführen konnten. Mit Mattea Gianotti, Hassan Zahreddine, Sabine Rufener, Jennifer Grunder und Ilona Kannenwurf besuchten uns professionelle und hochkarätige Kulturschaffende aus verschiedensten Bereichen und gaben dabei Einblick in ihre Arbeit. Dass nebst Lesungen und Workshops auch eine Tanzperformance dabei war, weitete unser Verständnis von Kunst- und Literaturvermittlung auf instruktive Weise.

In eine ganz andere Richtung ging es mit einem Projekt, das wir in Zusammenarbeit mit dem DOCK Basel, dem Zentrum für Umweltwissenschaften und einer Schulklasse aus dem Inselschulhaus durchführten. Während mehreren Wochen forschten wir dabei zum Thema Boden in der Stadt und versuchten so Kunstvermittlung, Naturwissenschaft und Bildung für nachhaltige Entwicklung experimentell miteinander zu verbinden. Die Filmemacherin Esther Petsche hat das Projekt mit der Videokamera begleitet, den entstandenen Film konnten wir nebst den künstlerischen Arbeiten der Kinder an einer Vernissage im DOCK Basel zeigen. Das Bild, das dabei auf einfühlsame Weise von unserer Arbeit entstand, so sichtbar im öffentlichen Raum zu sehen, freute uns ausserordentlich. Dabei sind es auch wieder die Zwischentöne, die sich da vom Vordergründigen abheben und unsere Arbeit auf spezielle Weise auszeichnen. In Gestalt von Fragmentarischem, Vorläufigem, Unbestimmtem oder Brüchigem wird erahnbar, welch langwierige Prozesse hinter unserer Arbeit im Dazwischen stehen, zwischen kleinem Raum und grossem Arbeitstisch.

Hier finden sie den vollständigen Jahresbericht als PDF.